Begleitpost zu Aeneis, Buch 01

Die Textstellen, die wir in dieser Folge genauer besprechen, sind:


Vergil (Verg.) Aeneis (Aen.) Buch 1, Verse 1-11 (1.1–11)


Arma uirumque cano, Troiae qui primus ab oris
Italiam fato profugus Lauiniaque uenit
litora, multum ille et terris iactatus et alto
ui superum, saeuae memorem Iunonis ob iram,
multa quoque et bello passus, dum conderet urbem
inferretque deos Latio; genus unde Latinum
Albanique patres atque altae moenia Romae.
Musa, mihi causas memora, quo numine laeso
quidue dolens regina deum tot uoluere casus
insignem pietate uirum, tot adire labores
impulerit. tantaene animis caelestibus irae?

Übersetzung (P.K.)

Von Krieg und dem Mann sing ich, der als erster von Trojas Küste
nach Italien, schicksalsgemäß als Flüchtling, und Laviniums Küste
kam; viel wurde er zu Land und Wasser verschlagen
durch die Macht der Götter, und wegen des unnachgiebigen Zorns der wilden
Juno; viel erlitt er auch im Krieg, bis er die Stadt gründen sollte
und die Gottheiten nach Latium bringen; daher das Volk der Latiner,
die Vorväter aus Alba und die Mauern der hohen Stadt Rom.
Muse, zähl auf mir die Gründe, durch welche Geringschätzung ihres Wirkens,
aus Schmerz worüber die Königin der Götter so viele Ereignisse zu durchleben,
so viele Mühen auf sich zu nehmen zwang diesen Mann, ausgezeichnet durch sein 
Pflichtbewusstsein. Spüren Götterherzen solche Zornesregungen?

Aen. 1.12–18


 Vrbs antiqua fuit (Tyrii tenuere coloni)
Karthago, Italiam contra Tiberinaque longe
ostia, diues opum studiisque asperrima belli,
quam Iuno fertur terris magis omnibus unam
posthabita coluisse Samo. hic illius arma,
hic currus fuit; hoc regnum dea gentibus esse,
si qua fata sinant, iam tum tenditque fouetque.

Es gab eine uralte Stadt (tyrische Siedler bewohnten sie)
Karthago, Italien entgegen gelegen und weit von der Mündung des
Tiber, reich an Schätzen und gestählt durch ihr Kriegsunternehmen.
Sie soll Iuno allein als einzige mehr als alle anderen Erdteile,
selbst Samos musste vor ihr zurücktreten, geschätzt haben. Hier waren ihre
Waffen, hier ihr Wagen. Dass diese (Stadt) die Herrschaft über die Völker haben soll,
wenn das Schicksal es irgend zuließe, erstrebt und befeuert die Göttin schon damals.

Aen. 1.33


tantae molis erat Romanam condere gentem.

Eine solche Last war es, das römische Volk zu begründen. 

Aen. 1. 92–101


extemplo Aeneae soluuntur frigore membra;
ingemit et duplicis tendens ad sidera palmas
talia uoce refert: 'o terque quaterque beati,
quis ante ora patrum Troiae sub moenibus altis
contigit oppetere! o Danaum fortissime gentis
Tydide! mene Iliacis occumbere campis
non potuisse tuaque animam hanc effundere dextra,
saeuus ubi Aeacidae telo iacet Hector, ubi ingens
Sarpedon, ubi tot Simois correpta sub undis
scuta uirum galeasque et fortia corpora uoluit!’

Mit einem Mal brach Aeneas’ Körper in Eiseskälte zusammen;
er ächzte, und indem er beide Handflächen zu den Sternen reckte,
sprach er folgendes aus: “O, drei-, viermal selig seid ihr,
denen vor den Augen der Väter, im Schatten von Trojas hohen Mauern
zu sterben vergönnt war! O stärkster des Griechenvolkes,
Diomedes! Dass ich auf der Ebene Trojas nicht fallen
konnte und mein Leben durch deine Schwerthand aushauchen! - 
wo der wilde Hektor liegt, durch den Speer des Achilleus, wo der große
Sarpedon, wo der Simois, verrostet unter den Fluten, so viele
Schilde von Kämpfern und Helme und mächtige Körper umherwälzt!”


Aen. 1.148–156


ac ueluti magno in populo cum saepe coorta est
seditio saeuitque animis ignobile uulgus
iamque faces et saxa uolant, furor arma ministrat;
tum, pietate grauem ac meritis si forte uirum quem
conspexere, silent arrectisque auribus astant;
ille regit dictis animos et pectora mulcet:
sic cunctus pelagi cecidit fragor, aequora postquam
prospiciens genitor caeloque inuectus aperto   
flectit equos curruque uolans dat lora secundo.


Und wie, wenn oft schon in einem großen Volk ein Aufstand
passiert ist, und die gesichtslose Masse vor Erregung rast,
und schon Fackeln und Steine fliegen, das Rasen die Waffen zur Hand gibt;
sie dann, wenn sie auf einmal einen Mann, schwer von Verantwortung und Verdienst
erblicken, schweigen und mit gespitzten Ohren erwartungsvoll innehalten;
jener Mann dann mit seinen Sprüchen ihre Stimmung und Herzen besänftigt –
so erstarb das ganze Krachen des Meeres, nachdem sein Schöpfer durch die Wasseroberfläche blickte, und nachdem er über den hellen Himmel fuhr, 
wendete er die Pferde um und ließ im Flug die Zügel am dahinschießenden Wagen locker. 

Aen. 1.198–209


'O socii (neque enim ignari sumus ante malorum),
o passi grauiora, dabit deus his quoque finem.
uos et Scyllaeam rabiem penitusque sonantis
accestis scopulos, uos et Cyclopia saxa
experti: reuocate animos maestumque timorem
mittite; forsan et haec olim meminisse iuuabit.
per uarios casus, per tot discrimina rerum
tendimus in Latium, sedes ubi fata quietas
ostendunt; illic fas regna resurgere Troiae.
durate, et uosmet rebus seruate secundis.'
Talia uoce refert curisque ingentibus aeger
spem uultu simulat, premit altum corde dolorem.

“Meine Gefährten – denn wir erinnern uns doch genau an frühere Übel –
die ihr schon Schlimmeres überstanden habt, ein Gott wird auch diesem hier ein Ende setzen. Ihr habt euch Skyllas Tollwut, den in der Tiefe donnernden
Felsen genähert, ihr habt die Felsen des Kyklopen
kennengelernt: Findet euren Mut wieder, und traurige Angst
lasst hinter euch. Vielleicht werden wir uns auch an die jetzige Situation einmal gern erinnern. Durch verschiedene Zufälle, durch so viele Gefahren der Welt hindurch
sind wir auf dem Weg nach Latium, wo das Schicksal uns eine ruhige Bleibe
verspricht. Dort darf Trojas Herrschaft sich wieder erheben. 
Haltet durch, und bewahrt euch für die guten Dinge!”
Solches sprach er aus, und erschöpft von gewaltigen Sorgen
gibt er Hoffnung mit seiner Miene vor, unterdrückt tiefen Schmerz im Herzen.  


Aen. 1.278–283


his ego nec metas rerum nec tempora pono:
imperium sine fine dedi. quin aspera Iuno,
quae mare nunc terrasque metu caelumque fatigat,
consilia in melius referet, mecumque fouebit
Romanos, rerum dominos gentemque togatam.
sic placitum.

“Diesen setze ich weder Grenzen in der Welt noch Zeiträume:
eine Herrschaft ohne Ende habe ich ihnen gewährt. Sogar die widerspenstige Iuno,
die nun Meer und Länder mit Angst und auch den Himmel strapaziert,
wird ihre Pläne zum Besseren wandeln, und gemeinsam mit mir die Römer
fördern, die Herren der Welt, das Volk in der Toga. 
So ist es beschlossen.”

Aen. 1.421–429


miratur molem Aeneas, magalia quondam,
miratur portas strepitumque et strata uiarum.
instant ardentes Tyrii: pars ducere muros
molirique arcem et manibus subuoluere saxa,
pars optare locum tecto et concludere sulco;
iura magistratusque legunt sanctumque senatum.
hic portus alii effodiunt; hic alta theatris
fundamenta locant alii, immanisque columnas
rupibus excidunt, scaenis decora apta futuris:

Aeneas bestaunt das gewaltige Werk, eben noch Hütten, 
er bestaunt die Tore, den Lärm und die gepflasterten Straßen.
Mit glühendem Eifer schaffen die Tyrer: ein Teil zieht die Mauern
und befestigt die Burg und rollt mit den Händen Steine daran,
ein Teil bestimmt den Platz für ihr Haus und umschließt ihn mit einer Furche;
sie wählen Gesetze, Beamte und den heiligen Senat. 
Andere heben hier den Hafen aus; hier graben für die Theater
andere tiefe Fundamente, gigantische Säulen
schlagen sie aus den Klippen, passender Schmuck für die künftige Bühne.

Aen. 1.607–610


in freta dum fluuii current, dum montibus umbrae
lustrabunt conuexa, polus dum sidera pascet,
semper honos nomenque tuum laudesque manebunt,
quae me cumque uocant terrae.

“Solange Flüsse ins Meer fließen, solange auf den Bergen die Schatten
durch Höhlen ziehen, solange das Firmament Sterne weidet,
wird Wertschätzung für dich, dein Name und dein Lobpreis bestehen bleiben,
welche Länder mich auch rufen mögen.

Aen. 1.712–722


praecipue infelix, pesti deuota futurae,
expleri mentem nequit ardescitque tuendo
Phoenissa, et pariter puero donisque mouetur.
ille ubi complexu Aeneae colloque pependit
et magnum falsi impleuit genitoris amorem,
reginam petit. haec oculis, haec pectore toto
haeret et interdum gremio fouet inscia Dido
insidat quantus miserae deus. at memor ille
matris Acidaliae paulatim abolere Sychaeum
incipit et uiuo temptat praeuertere amore
iam pridem resides animos desuetaque corda.

Vor allem aber kann die unglückliche, zu kommendem Verderben verdammte
Punierin ihr Sehnen nicht stillen, und sie erglüht vor Erstaunen,
und gleichermaßen vom Buben wie von den Geschenken wird sie bewegt.
Nachdem dieser in der Umarmung des Aeneas und ihm um den Hals gehangen ist
und die große Liebe seines falschen Vaters erfüllt hat,
stürzt er sich auf die Königin. Sie hängt teils mit den Augen, teils mit ganzem Herzen
an ihm und hält ihn immer wieder im Schoß - Dido, ahnungslos
welch gewaltiger Gott auf ihr sitzt, der armen. Aber er, in Erinnerung
an seine Mutter Venus, beginnt nach und nach, Sychaeus verblassen
zu lassen, und versucht, mit lebendiger Liebe Besitz zu ergreifen
von längst ermatteter Leidenschaft und Herzen außer Übung.


(Unsere) Textausgabe


P. Vergilii Maronis opera, ed. R. A. B. Mynors, Oxford 1969.


Bibliographie


R. G. Austin. “Aeneidos Liber Primus. With a commentary by R. G. Austin”. Oxford 1971.

F. Cairns. “Virgil’s Augustan Epic”. Cambridge 1989.

D. C. Feeney. “The Taciturnity of Aeneas”. In Harrison 1990, 167–190.

N. M. Horsfall. “Dido in the Light of History”. In Harrison 1990, 127–44.

W. R. Johnson. “Darkness Visible. A Study of Vergil’s Aeneid”. Berkeley/Los Angeles/London 1976.

R. O. A. M. Lyne. “Further Voices in Vergil’s Aeneid”. Oxford 1992.

Adam Parry. “The Two Voices of Virgil’s ‘Aeneid’”. In: Arion: A Journal of Humanities and the Classics Vol 2 No 4, 1963, 66-80.

N. Rudd. “Dido’s culpa”. In Harrison 1990, 145–166.