Begleitpost Folge 17: Servius' praefatio
Der lateinische Text folgt der Ausgabe von Thilo/Hagen:
Servii Grammatici qui feruntur in Vergilii carmina commentarii. Ed. G. Thilo & H.Hagen. Leipzig 1881.
[1.pr] In exponendis auctoribus haec consideranda sunt: poetae vita, titulus operis, qualitas carminis, scribentis intentio, numerus librorum, ordo librorum, explanatio.
Übersetzung:
Bei der Auseinandersetzung mit Schriftstellern muss man folgende Dinge in Betracht ziehen: Das Leben des Dichters, den Titel des Werkes, die Art und Weise der Dichtung, die Zielsetzung des Schreibenden, die Anzahl der Bücher, die Anordung der Bücher, und die Erläuterung.
Vergilii haec vita est. patre Vergilio matre Magia fuit; civis Mantuanus, quae civitas est Venetiae. diversis in locis operam litteris dedit; nam et Cremonae et Mediolani et Neapoli studuit. adeo autem verecundissimus fuit, ut ex moribus cognomen acceperit; nam dictus est Parthenias. omni vita probatus uno tantum morbo laborabat; nam inpatiens libidinis fuit.
ÜS:
Dies ist die Lebensbeschreibung Vergils: Er stammte von einem Vater namens Vergilius und einer Mutter namens Magia; war ein Bürger Mantuas, eine Gemeinde in der Region Venetia. An verschiedenen Orten beschäftigte er sich mit Literatur; denn er studierte in Cremona, Mediolanum und Neapolis. Er war jedoch derart und im höchsten Maß zurückhaltend, dass er aufgrund seines Charakters einen Beinamen erhielt: Man nannte ihn “Partenias”, den “Unberührten”. Das ganze Leben über ohne Tadel, plagte ihn nur ein einziges Laster: Er konnte seine Begierde nicht zügeln.
primum ab hoc distichon factum est in Ballistam latronem “Monte sub hoc lapidum tegitur Ballista sepultus: nocte die tutum carpe viator iter.” scripsit etiam septem sive octo libros hos: Cirin Aetnam Culicem Priapeia Catalepton Epigrammata Copam Diras.
ÜS:
Seinen ersten Zweizeiler verfasste er als Angriff gegen den Räuber Ballista: “Unter diesem Berg aus Steinen liegt Ballista begraben: Nun, wo er bei Nacht und Tag sicher ist, setze, Wanderer, deinen Weg fort.” Er hat außerdem sieben oder acht (weitere) Bücher geschrieben, nämlich diese: Ciris, Aetna, Culex, Priapea, Catalepton, Epigrammata, Copa, Dirae.
postea ortis bellis civilibus inter Antonium et Augustum, Augustus victor Cremonensium agros, quia pro Antonio senserant, dedit militibus suis. qui cum non sufficerent, his addidit agros Mantuanos, sublatos non propter civium culpam, sed propter vicinitatem Cremonensium: unde ipse in bucolicis “Mantua vae miserae nimium vicina Cremonae” (9.28).
ÜS:
Später, nachdem es zu Bürgerkriegen zwischen Antonius und Augustus gekommen war, schenkte August als Sieger die Ländereien der Cremonenser, weil diese auf Antonius’ Seite gestanden waren, seinen Veteranen. Da diese aber nicht ausreichten, fügte er ihnen die Ländereien Mantuas auch noch hinzu; diese wurden den Bürgern nicht aufgrund einer Schuld genommen, sondern weil sie denen der Cremonenser benachbart waren. Deshalb sagt er selbst in den Bucolica: “Ach, Mantua, dem armen Cremona zu sehr benachbart!”
amissis ergo agris Romam venit et usus patrocinio Pollionis et Maecenatis solus agrum quem amiserat meruit. tunc ei proposuit Pollio ut carmen bucolicum scriberet, quod eum constat triennio scripsisse et emendasse. item proposuit Maecenas Georgica, quae scripsit emendavitque septem annis. postea ab Augusto Aeneidem propositam scripsit annis undecim, sed nec emendavit nec edidit: unde eam moriens praecepit incendi.
ÜS
Nachdem er also sein Land verloren hatte, kam er nach Rom, und indem er sich der Unterstützung von Pollio und Maecenas bediente, errang er alleine das Land, das er eingebüßt hatte, zurück. Daraufhin schlug Pollio ihm vor, ein Hirtengedicht zu schreiben; dieses, das steht fest, hat er in drei Jahren geschrieben und überarbeitet. Ebenso schlug Maecenas ihm die Georgica vor, die er in sieben Jahren geschrieben und überarbeitet hat. Schließlich schrieb er die Aeneis, die ihm von Augustus vorgeschlagen worden war, in elf Jahren, aber er hat sie weder überarbeitet noch herausgegeben; und deshalb ordnete er auf dem Sterbebett an, sie zu verbrennen.
Augustus vero, ne tantum opus periret, Tuccam et Varium hac lege iussit emendare, ut superflua demerent, nihil adderent tamen: unde et semiplenos eius invenimus versiculos, ut “hic cursus fuit” (1.534), et aliquos detractos, ut in principio; nam ab armis non coepit, sed sic “Ille ego, qui quondam gracili modulatus avena
carmen, et egressus silvis vicina coegi
ut quamvis avido parerent arva colono,
gratum opus agricolis, at nunc horrentia Martis
arma virumque cano”
ÜS:
Augustus jedoch, damit ein so gewaltiges Werk nicht verloren ginge, befahl Tucca und Varius [die Aeneis] zu überarbeiten, mit der Vorgabe, dass sie das Überflüssige entfernen sollten, aber nichts hinzufügen. Deshalb finden wir darin halbfertige Einzelverse, wie etwa “Dies war die Richtung”, und einige [Verse], die gestrichen wurden, etwa am Beginn: Denn er hat nicht mit arma, den “Waffen”, begonnen, sondern so:
“Ich, der ich einst auf einem zarten Halm ein Lied
gesungen, und, aus dem Wald getreten, die benachbarten
Felder veranlasst, zu gehorchen dem Bauer, so gierig er sei –
ein bei Landwirten beliebtes Werk! – doch nun des Mars’ schreckliche
Waffen besing’ ich, und den Mann…”
titulus est Aeneis, derivativum nomen ab Aenea, ut a Theseo Theseis. sic Iuvenalis “vexatus totiens rauci Theseide Codri”.
ÜS
Der Titel ist Aeneis, ein abgeleiteter Name, der von “Aeneas” stammt, wie auch von “Theseus” die Theseis; so z.B. bei Juvenal “so oft gequält von der Theseis des heiseren Codrus”
qualitas carminis patet; nam est metrum heroicum et actus mixtus, ubi et poeta loquitur et alios inducit loquentes. est autem heroicum quod constat ex divinis humanisque personis, continens vera cum fictis; nam Aeneam ad Italiam venisse manifestum est, Venerem vero locutam cum Iove missumve Mercurium constat esse conpositum. est autem stilus grandiloquus, qui constat alto sermone magnisque sententiis. scimus enim tria esse genera dicendi, humile medium grandiloquum.
ÜS
Die Art und Weise der Dichtung ergibt sich von selbst: Denn das Versmaß ist heroisch, der Hexameter, und die Handlung ist eine gemischte, wo sowohl der Dichter spricht als auch andere Sprechrollen auftreten lässt. Heroisch aber ist, was von göttlichen und menschlichen Figuren getragen wird und Wahres in Verbindung mit Erfundenem enthält. Denn dass Aeneas nach Italien gekommen ist, ist offensichtlich; dass hingegen Venus mit Iuppiter gesprochen hat oder Merkur geschickt wurde, ist zweifelsfrei dichterisch gestaltet. Der Stil ist zudem der erhabene, der aus gehobener Sprache und großen Aussagen besteht. Wir wissen ja, dass es drei Arten des Sprechens gibt: die bescheidene, die gemäßigte und die erhabene.
intentio Vergilii haec est, Homerum imitari et Augustum laudare a parentibus; namque est filius Atiae, quae nata est de Iulia, sorore Caesaris, Iulius autem Caesar ab Iulo Aeneae originem ducit, ut confirmat ipse Vergilius a “magno demissum nomen Iulo” .
ÜS
Die Zielsetzung Vergils ist diese: Homer nachzubilden und Augustus ausgehend von seinen Vorfahren zu preisen. Denn dieser ist der Sohn Atias, die von Iulia stammt, der Schwester Caesars. Iulius Caesar leitet seine Herkunft von Iulus, dem Sohn des Aeneas, ab, wie Vergil selbst bekräftigt: “ein Name, der vom großen Iulus herabgesendet wurde”
de numero librorum nulla hic quaestio est, licet in aliis inveniatur auctoribus; nam Plautum alii dicunt unam et viginti fabulas scripsisse, alii quadraginta, alii centum.
ÜS:
Zur Anzahl der Bücher stellt sich hier keine Frage, mag man diese auch bei anderen Schriftstellern finden: Denn bei Plautus sagen manche, er habe 21 Stücke geschrieben, andere 40, andere 100.
ordo quoque manifestus est, licet quidam superflue dicant secundum primum esse, tertium secundum, et primum tertium, ideo quia primo Ilium concidit, post erravit Aeneas, inde ad Didonis regna pervenit, nescientes hanc esse artem poeticam, ut a mediis incipientes per narrationem prima reddamus et non numquam futura praeoccupemus, ut per vaticinationem: quod etiam Horatius sic praecepit in arte poetica “ut iam nunc dicat iam nunc debentia dici, pleraque differat et praesens in tempus omittat” : unde constat perite fecisse Vergilium.
ÜS:
Die Anordnung [der Bücher] ist auch klar, auch wenn gewisse Leute überflüssigerweise sagen, das zweite sei das erste, das dritte das zweite, und das erste das dritte, und zwar deswegen, weil zuerst Troja gefallen ist, danach Aeneas seine Irrfahrten hatte, und er dann in Didos Reich gelangte. Diese Leute wissen nicht, dass genau das die Dichtkunst ist: Dass wir zwar mit Ereignissen in der Mitte beginnen, aber sie in der Erzählung als erste wiedergeben, und nicht selten auch Zukünftiges vorwegnehmen, wie etwa in Form einer Weissagung. So hat es auch Horaz in seiner “Dichtkunst” vorgeschrieben: “dass [der Dichter] jetzt das sagt, was auch jetzt gesagt werden muss; die meisten Dinge aufschiebt und für den Moment auslässt.” So ist dann auch deutlich, dass Vergil nach allen Regeln der Kunst vorgegangen ist.
sola superest explanatio, quae in sequenti expositione probabitur. haec quantum ad Aeneidem pertinet dixisse sufficiat, nam bucolicorum et georgicorum alia ratio est. sciendum praeterea est quod, sicut nunc dicturi thema proponimus, ita veteres incipiebant carmen a titulo carminis sui, ut puta “arma virumque cano” , Lucanus “Bella per Emathios” (1.1), Statius “Fraternas acies alternaque regna” .
ÜS:
Bleibt nur noch die Erläuterung, welche im Folgenden ausgeführt und argumentiert werden soll.
Was die Aeneis angeht, soll dies genug gesagt sein; denn mit den Bucolica und den Georgica verhält es sich anders.
Übrigens muss man noch wissen, dass, wie wir jetzt, wenn wir etwas vortragen, das Thema nennen, so auch Leute damals ein Gedicht mit einem Titel ihres Gedichts begonnen haben, wie zum Beispiel “Waffen besing’ ich, und den Mann”, Lucan mit “Krieg über Emathien”, Statius mit “Bruderheere und Reiche gegeneinander”.