Was ist Klassische Philologie?
Das hier ist der Begleitpost zu unserer zweiten Podcast-Folge mit den erwähnten Belegstellen und Hilfsmitteln zum Nachlesen.
Definitionen von "Philologie"
- φίλος + λόγος: Liebe zur Sprache.
- Duden: “Wissenschaft, die sich mit der Erforschung von Texten in einer bestimmten Sprache beschäftigt; Sprach- und Literaturwissenschaft. Beispiel: klassische Philologie (Griechisch und Latein).“
Der Beispielvers
Hor. c. 1.11.8: aetas. carpe diem quam minimum credula postero
[standardisierte Zitierweise: c. 1.11.8 = 8. Vers im 11. Gedicht im 1. Buch der Oden (carmina) von Horaz.]
Übersetzungen
- Reclam (Bernhard Kytzler): “greif diesen Tag, nimmer traue dem nächsten!
- Tusculum (alt, Hans Färber): “Schenk dem kommenden Tag nimmer Vertrauen, koste den Augenblick!”
- Loeb (Niall Rudd): “Pluck the day, trusting as little as possible in tomorrow.”
Grammatik
- carpe – 2. Person Singular Imperativ Präsens Aktiv von carpere „pflücken“, d.h. “pflücke!”
- diem – Akkusativ Singular von dies diei (maskulin) „Tag“
„Pflücke den Tag“
- quam – mit folgendem Superlativ “so … wie möglich”
- minimum – Superlativ Adverb oder Akkusativ Singular (masklin) von parvus „klein“
„so klein / früh / wenig wie möglich“
- credula – Vokativ oder Nominativ (feminin) von credulus „leichtgläubig“
- postero – Dativ Singular (maskulin) von posterus „nachfolgend“ (ergänzt gedacht noch mal der Tag)
„auf den nächsten vertrauend“
Wörterbücher
Georges
(Lateinisch-Deutsch)
Online verfügbar (in einer älteren Version)
TLL
(Thesaurus Linguae Latinae - einsprachig)
Online verfügbar
OLD
(Oxford Latin Dictionary - Lateinisch-Englisch)
Belegstellen
(Beispielübersetzungen stammen von uns)
credulus bei Horaz
c. 1.5.8-9: emirabitur insolens, / qui nunc te fruitur credulus aurea
“überfordert wird er (das Meer) anstaunen, der sich nun leichtgläubig (credulus) an dir, Goldstrahlende, erfreut”
[es geht um einen jungen Mann, der sich auf eine Beziehung mit der angesprochenen Frau einlässt – der Sprecher im Gedicht wurde von dieser jedoch bereits verlassen und glaubt zu wissen, dass das Vertrauen enttäuscht werden wird]
c. 3.7.12 ut Proetum mulier perfida credulum / falsis impulerit criminibus
“wie den Proitos seine hinterlistige Frau mit gegenstandslosen Vorwürfen angetrieben hat, den gutgläubigen (credulum)”
[Proitos ist in der griechischen Mythologie ein König, der – in einer der vielen Variationen der Potifar-Joseph-Geschichte, die man aus der Bibel kennt – von seiner Frau dazu aufgestachelt wird, dem Helden Bellerophon Prüfungen aufzuerlegen, nachdem sie von Bellerophon zurückgewiesen wurde]
c. 4.1.30 nec spes animi credula mutui
“und nicht die Hoffnung, die allzu frohe (credula), auf gegenseitiges Interesse”
[Horaz reflektiert hier am Beginn seines vierten Oden-Buches, die ja ein Alterswerk sind, über seine schwindende Freude an romantischen Abenteuern. In credulus schwingt dabei der Gemeinplatz (topos) mit, dass Menschen im Alter nicht mehr attraktiv sind; Horaz rechnet sich also keine Chancen mehr aus.]
epod. 16.33 credula nec ravos timeant armenta leones
“Vertrauensvoll (credula) möge das Vieh die gelbfelligen Löwen nicht fürchten.”
[In dieser Epode formuliert Horaz eine utopische Friedensvision als Alternative zum Rom nach den Bürgerkriegen. Dass Raubtiere und Beutetiere friedlich nebeneinander liegen, gehört zum Standardrepertoire solcher Schilderungen vom “goldenen Zeitalter”. Anders als in der gespaltenen Gesellschaft im damaligen Rom können sich in dieser Vision also sogar “natürliche” Feinde auf einander verlassen; man kann es sich “leisten”, credulus/a zu sein.]
credulus bei Vergil
ecl. 9.33-34: me quoque dicunt / uatem pastores: sed non ego credulus illis
“auch die Hirten nennen mich Dichterprophet: Doch denen schenke ich nicht leichtfertig Glauben.”
[Der Sprecher, Lycidas, ist selbst ein Hirte – er bezeichnet sich zwar als poeta in Vers 31, gibt also zu, dass er sich dichterisch betätigt, weist jedoch den Titel vates, den ihm seine Hirtenkollegen antragen, zurück: Diese Ehre (vates ist eigentlich ein religiöser Begriff) kann aus seiner Sicht von Hirten und an Hirten, die der städtischen Hochkultur fern sind, nicht verliehen werden. Die Aussage ist nicht wortwörtlich zu verstehen, sondern als Vergils Auseinandersetzung mit genau diesem Spannungsfeld von Stadt und Land.]
quam minimum vs. quam minime bei Cicero
Verr. 2.1.75: quo quam minime multi ex illis de istius nefario scelere audire possent. (Adverb minime)
“damit möglichst wenige (quam minimum multi) von ihnen etwas von diesem schrecklichen Verbrechen mitbekommen konnten.”
[quam minime multi heißt wörtlich so viel wie “möglichst wenig viele” - das minime “minimiert” also das Adjektiv multi; Cicero hätte um den Preis der Alliteration qu-qu-mi-mu auch quam paucissimi schreiben können.]
Verr. 2.4.19: quae malo integra reservare ut quam minimum dem illis temporis ad meditandum confirmandumque periurium. (substantiviertes Adjektiv minimum)
“Das möchte ich lieber unbehandelt lassen, damit ich ihnen möglichst wenig (quam minimum) Zeit lasse, um über Meineid nachzudenken und sich dazu zu entschließen.”
[quam minimum temporis heißt wörtlich “etwas möglichst Kleines von der Zeit”, also “einen möglichst kleinen Teil der Zeit”. Der Genetiv ist hier nicht zwingend, d.h. quam mininum tempus wäre auch grammatisch möglich, aber Cicero bezieht sich hier wohl auch auf die ihm zugemessene Redezeit.]
inv. 2.35: atque ipsum illud peccatum erit extenuandum, ut quam minimum obfuisse videatur. (Adverb minimum)
“und das Delikt selbst wird man herunterspielen müssen, damit es möglichst wenig (quam minimum) den Eindruck erweckt, dass es Anstoß erregt hat”
Metrik
Das Versmaß, in dem dieses Gedicht verfasst ist, ist der sogenannte “Asclepiadeus maior”, der “größere Asklepiadeische Vers” (benannt, wie die meisten antiken Versmaße, nach der Dichterperson, die ihn “als erste:r” benützt hat, hier ein gewisser Asklepiades von Samos). Der gehört zu den lyrischen Versmaßen, das heißt solchen, die zur Lyra gesungen wurden (ursprünglich).
Lyrische Versmaße haben ein charakteristisches rhythmisches Muster: lange Silbe - kurze Silbe - kurze Silbe - lange Silbe, lang-kurz-kurz-lang. Dieses pattern bezeichnet man als “Choriambus”, und der Asclepiadeus maior hat gleich 3 Stück davon, die den Vers strukturieren.
Das quam minimum stellt dabei den mittleren Choriambus des Verses dar. Da sich oft auch Muster innerhalb von Gedichten erkennen lassen, wie bestimmte Elemente von Versen sich zum Rest des Verses verhalten, kann man auch aus der Metrik Hinweise zur Interpretation gewinnen. Hier ist es zum Beispiel so, dass der mittlere Choriambus in den restlichen Versen des Gedichtes gedanklich eher direkt an das anschließt, was davor gesagt wurde – daraus könnte man folgern, dass auch hier quam minimum eher zu carpe diem und weniger zu credula gehört.
(Genauso gut kann man aber argumentieren, dass gerade im letzten Vers ein Bruch mit dem Aufbau der vorangehenden Verse besonders effektvoll ist.)
Letztendlich gilt auch hier: Man sollte es dem Gedicht durchaus zutrauen, dass es auf mehrfache Lesarten ausgelegt ist und gerade die Irritation, wo das quam minimum denn nun hingehört, kalkulierter Teil der Leseerfahrung ist.
Kommentare
Nisbert-Hubbard
Nisbert, R.G.M. / Hubbard, Margaret: A Commentary on Horace: Odes, Book 1. Oxford (1970).
Porphyrio
ed. Meyer, auf archive.org online verfügbar
Weitere Sekundärliteratur
- Grimm, R. E. (1963): Horace’s “Carpe Diem”. In: The Classical Journal, Vol. 58, No. 7 (April), 313-318 (Analyse der ganzen Ode).
- Maleuvre, J. Y. (1998): Carpe diem quam minimum (Horace, ‚Odes‘ I, 11). In: Études Classiques 66 (1-2), 73-82 (Lesart des quam minimum mit diem).